Studien

Etwa seit den 2000er Jahren beschäf­ti­gen sich die Medien mit den Suizid­fo­ren im Inter­net. In der anfäng­li­chen Bericht­er­stat­tung hat vor allem der Spie­gel eine tragende Rolle über­nom­men. Die Arti­kel vermit­teln den Eindruck, dass immer mehr nicht­sui­zi­dale Jugend­li­che auf den ›Todes­fo­ren‹ surfen und dort nach und nach depres­sive Gedan­ken entwi­ckeln, die häufig im Suizid enden.

Nach dieser einsei­tig nega­ti­ven Einschät­zung des Phäno­mens wurden immer mehr kriti­sche Stim­men laut, dass diese Ansich­ten ledig­lich auf doku­men­tier­ten Einzel­fäl­len beru­hen und nicht durch wissen­schaft­li­che Erkennt­nisse bestä­tigt werden könn­ten. Als logi­sche Konse­quenz wurden von verschie­de­nen Wissen­schaft­lern Forschungs­pro­jekte ange­strebt, um Risi­ken und womög­li­che Chan­cen von Suizid­fo­ren zu unter­su­chen und gesi­cherte Ergeb­nisse zu erzie­len.

Studien:

Winkel: »Suizi­da­li­tät bei Jugend­li­chen und jungen Erwach­se­nen: Die Nutzung von Gesprächs­fo­ren im Internet»

Durch­ge­führt von der Diplom-Psychologin Sandra Winkel an der Univer­si­tät Bremen. Um aussa­ge­kräf­tige Ergeb­nisse zu erhal­ten, wurden drei Metho­den verwendet:

1. Online-Befragung über einen Zeit­raum von vier Wochen im April 2003
2. Inhalts­ana­ly­ti­sche Unter­su­chung von Foren­bei­trä­gen eines ausge­wähl­ten Suizid­fo­rums von Februar 2002 bis Februar 2003
3. Verglei­chende Inhalts­ana­lyse von insge­samt neun Suizid­fo­ren in einem Zeit­raum von zwei Wochen im Mai 2003

Insge­samt konn­ten 315 Frage­bö­gen ausge­wer­tet werden. 31% der Befrag­ten sind männ­lich. Das Durch­schnitts­al­ter liegt bei ca. 22 Jahren.

Zur Studie

Sasse: »Gesprächs­fo­ren im Inter­net. Sind User einer Gefahr ausge­setzt oder können sie einen Nutzen daraus ziehen?«

Durch­ge­führt von der dama­li­gen Pädagogik-Doktorandin Stepha­nie Sasse an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für die Studie wurden zwei Metho­den ausgewählt:

1. Beob­ach­tung von Suizid­fo­ren
2. Online-Befragung von Mitgliedern

Die Unter­su­chung fand fünf Wochen lang im Juni und Juli 2008 statt. Es konn­ten Daten von 139 ausge­füll­ten Frage­bö­gen erho­ben werden. Etwa 73% der Befrag­ten sind weib­li­chen Geschlechts. Das durch­schnitt­li­che Alter beträgt etwa 24 Jahre.

Zur Zusam­men­fas­sung der Studie 

Eichen­berg /Fischer / Kral: »Forschungs­pro­jekt Suizid-Selbsthilfeforen im Internet«

Durch­ge­führt von der Diplom-Psychologin Chris­tiane Eichen­berg, dem Psycho­the­ra­pie­wis­sen­schaft­ler Gott­fried Fischer vom Insti­tut für Klini­sche Psycho­lo­gie und Psycho­the­ra­pie der Univer­si­tät zu Köln und Gerald Kral, Psycho­the­ra­peut am Zentrum Rodaun in Wien.

Es handelt sich um eine Online-Befragungsstudie, die im März und April 2003 über einen Zeit­raum von vier Wochen stattfand.

Zur Auswer­tung wurden 164 komplett ausge­füllte Frage­bö­gen heran­ge­zo­gen. Das Geschlech­ter­ver­hält­nis ist ausge­gli­chen. Knapp 84% der Befrag­ten sind zwischen 16 und 30 Jahren alt.

Zur Zusam­men­fas­sung der Studie (S.137–150) 

 

Ausge­wählte Studienergebnisse

Statis­ti­ken über Foren­mit­glie­der

Geschlech­ter­ver­tei­lung

StudieWeib­lichMänn­lich
Winkel69%31%
Sasse73%27%
Eichen­berg et al.50%50%

Alters­ver­tei­lung

Studie0–1516–2021–2526–3031–3536–4041–4546–50ab 50
Eichen­berg et al. 4,9%53,7%20,7%9,1%4,9%3,0%1,2%0,6%1,8%

Sasse gibt an, dass die Stich­probe zum Groß­teil aus Adoles­zen­ten (18–21 Jahre) und jungen Erwach­se­nen (23–34 Jahre) besteht. Insge­samt liegt ein Alters­durch­schnitt von 23,8 Jahren vor. Bei Winkels Studie ist die Alters­gruppe der 16-20jährigen deut­lich am häufigs­ten vertre­ten. Die die Grup­pen der 21-25jährigen und 10-15jährigen Foren­mit­glie­der spie­len eine große Rolle.

Fami­li­en­stand

StudieLedig ohne feste PartnerschaftVerhei­ra­tet / feste PartnerschaftGeschie­den / getrennt lebendVerwit­wet
Eichen­berg et al. 76,2%19,5%3,0%1,2%

Haupt­säch­li­che Tätig­keit I: In Ausbil­dung

StudieSchuleStudiumAusbil­dung
Winkel47,3%13,2%8,5%
Eichen­berg et al. 40,2%18,9%7,3%
Winkel kommt zu dem Ergeb­nis, dass unter Foren­nut­zern ein über­wie­gend hoher Bildungs­stand vorliegt, da etwa 40% das Gymna­sium besu­chen und 30% bereits das Abitur absol­viert haben.

Haupt­säch­li­che Tätig­keit II: Nach der Ausbil­dung

StudieAnstel­lungSelbst­stän­digHaus­frau / HausmannArbeits­losSons­ti­ges
Winkel13,5%2,7%1,9%4,3%23,5%
Eichen­berg et al. 16,5%2,4%1,2%7,3%6,1%
Bei Winkel ist die Gruppe ›Sons­ti­ges‹ erheb­lich größer, da dort Frei­schaf­fende und Künst­ler dazu gezählt werden.

Motive zur Teil­nahme am Forum

Winkel:

sehr wich­tigziem­lich wichtigetwas wich­tignicht wich­tig
Offe­nes Gespräch über wich­tige Dinge52,6%25,8%11,6%10,0%
Kennen­ler­nen von Gleichgesinnten51,8%27,2%13,6%7,3%
Suche nach Verständnis34,0%32,5%16,2%17,4%
Infor­ma­tio­nen zur Problembewältigung26,7%37,7%23,0%12,6%
Bessere Selbst­ein­schät­zung durch Vergleich mit Anderen10,5%32,5%35,6%21,5%
Hilfe für Andere25,3%39,5%21,6%13,7%
Aus Inter­esse50,3%41,4%6,8%1,6%
Aus Gewohn­heit7,3%17,3%41,9%33,5%
Infor­ma­tio­nen über Suizidmethoden18,8%16,2%24,1%40,8%
Kontakt zu ande­ren Foren­mit­glie­dern erhalten13,6%25,7%30,9%29,8%

Zusam­men­fas­send hält Winkel fest, dass der Suche nach Austausch und Unter­stüt­zung beson­ders großes Gewicht zukommt. Nutzer von Foren, die Metho­den­dis­kus­sio­nen erlau­ben, sind stark an dies­be­züg­li­chen Infor­ma­tio­nen interessiert.

 
Sasse:

  • Austausch
  • Infor­ma­tive Unterstützung
  • Emotio­nale Unterstützung
  • Hilfe für Andere
  • Infor­ma­tion über profes­sio­nelle Hilfe
  • Infor­ma­tio­nen zur Bewäl­ti­gung der eige­nen Probleme
  • Gemein­sam Krise überwinden
  • Über eigene Probleme sprechen
  • Menschen mit ähnli­chen Proble­men kennenlernen
  • Suche nach Zuhö­rern, Unter­stüt­zung, Beistand, Trost


Laut Sasse geben die Foren­nut­zer an, das Forum nicht aus Neugierde oder Lange­weile zu besu­chen. Auch die Möglich­kei­ten zur Verab­re­dung zum gemein­sa­men Suizid oder den Austausch über Suizid­me­tho­den würden nicht genutzt.

Eichen­berg:
Die einzel­nen Kate­go­rien konn­ten mit Punk­ten von 1–5 bewer­tet werden, 1: trifft gar nicht zu und 5: trifft voll­kom­men zu.

MotivMittel­wert
Menschen mit ähnli­chen Gedan­ken / Proble­men kennenlernen3,51
Mittei­len von Problemen2,98
Ansprech­part­ner finden in akuter suizi­da­ler Krise2,71
Neugier2,67
Hilfe für Andere2,66
Loswer­den von Suizidgedanken2,43
Über­win­dung der Krise mit Gleichgesinnten2,41
Infor­ma­tio­nen über Suizidmethoden2,26
Infor­ma­tio­nen über profes­sio­nelle Hilfe1,80
Suche nach Suizidpartner1,60
Tipps für Umgang mit suizi­da­len Personen1,54
Eichen­berg zieht die Schluss­fol­ge­rung, dass konstruk­tive Motive deut­lich über­wie­gen. Beson­ders die Suche nach Verständ­nis und Kommu­ni­ka­tion mit Perso­nen, die ähnli­che denken und fühlen, waren Hauptmotivation.

Entwick­lung der Suizidalität

Selbst­ein­schät­zung der eige­nen Suizi­da­li­tät durch die Foren­mit­glie­der

StudieJewei­lige SkalaSuizid­ge­dan­ken vor
Forenbeitritt
Suizid­ge­dan­ken zum
Zeit­punkt der Befragung
Winkel1–53,702,89
Sasse1–4
3,092,14
Eichen­berg0–65,324,08

In allen drei Studien gaben die Foren­mit­glie­der an, zum Zeit­punkt der Befra­gung deut­lich weni­ger suizi­dal zu sein, als vor dem ersten Besuch des Forums. Sasse bemerkt außer­dem, dass je mehr prak­ti­sche Tipps von ande­ren Foren­nut­zern gege­ben wurden, desto stär­ker ging die selbst einge­schätzte Suizi­da­li­tät zurück. Somit über­wie­gen aus Sicht der Foren­mit­glie­der die suizid­prä­ven­ti­ven Aspekte gegen­über den suizidfördernden.

 
Suizid­prä­ven­tion — Über­win­dung der Suizid­ge­dan­ken mit Hilfe der Foren

StudieJaNeinViel­leicht
Sasse65%
8%27%
Eichen­berg34,1%11,0%54,9%

Die Foren­mit­glie­der, die an Sasses Studie teil­ge­nom­men haben, spre­chen sich zu großen Teilen für suizid­prä­ven­tive Aspekte aus. Unter ande­rem, weil das Thema Suizi­da­li­tät dadurch entta­bui­siert, der Zugang zu Hilfs­an­ge­bo­ten erleich­tert und Hilfe zur Selbst­hilfe ermög­licht werde. Insge­samt ziehen nur wenige Nutzer gar nicht in Betracht, durch ein Suizid­fo­rum die eige­nen Suizid­ge­dan­ken zu überwinden.